Die Welt zum Staunen
Die Kalltalgemeinschaft als künstlerische Gemeinschaft

„Erkenntnis der Welt treibt zur Änderung der Welt“

Franz Wilhelm Seiwert

Die Kalltalgemeinschaft wagte ein utopisches Experiment: Gemeinschaftliches Leben und Arbeiten in der Abgeschiedenheit von der Großstadt (und doch immer in Kontakt zu ihr) sollte zur Änderung der Welt beitragen. Wichtigstes Mittel hierbei war die Kunst.

Moderne Zeiten

Gesellschaftlich, politisch und künstlerisch war die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg durch große Veränderungen geprägt. In der Kunst war es eine Zeit der ,Ismen‘ und Avantgarden: Neben dem Expressionismus traten nun Kunstströmungen wie Konstruktivismus, DADA, Neue Sachlichkeit und Surrealismus auf, die sich alle wie kaum jemals zuvor mit gesellschaftspolitischen Aspekten auseinandersetzten und die alle dem damaligen ästhetischen Grundverständnis der Moderne verpflichtet waren, wonach Kunst der zeitgemäße Ausdruck (Zeichen, symbolische Form, Signatur …) von Gegenwart zu sein habe und die objektivierte Kultur jenseits eines bürgerlichen Kunstgenusses auf Augenhöhe mit der technologischen Zivilisation zu sein habe. Daher propagierten Manifeste und Zeitschriften nicht nur den Kunstbegriff der einzelnen Stile, sondern auch grundsätzliche Haltungen zur (modernen) Welt.

Moderne – mehr als ein Begriff

„Moderne“ war als Begriff schon unter Zeitgenossen mehr als eine Bezeichnung für eine historische Epoche oder einen Stil, sondern ein wertender Ausdruck:

„[…] dann wurde die ,Moderne' die Erlöserin, sie glaubten in ihr Antwort auf alle Fragen zu finden, für sie ist noch heute altmodisch und modern wie schlecht und gut. Das ist eine derbe, grundsätzlich feindselige Gesinnung, eine streitbare, neue Kirche.“

Oskar A. H. Schmitz, Die Geistigkeit vor dem Krieg, in: Der neue Merkur, Jg. 1, 1914/15

Foto von George Grosz und John Heartfield auf der Ersten Internationalen Dada-Messe 1920 © gemeinfrei

Foto von George Grosz und John Heartfield auf der Ersten Internationalen Dada-Messe 1920 © gemeinfrei

„[…] denn Stil ist ja nicht eine Fertigkeit, die man durch Übung erwerben kann, wie Tellerfangen, Feuerschlucken und offiziöse Leitartikel schreiben. Stil ist Gesinnung.“

René Schickele, Die Politik der Geistigen, in: März, Jg. 7, Heft 11, 1913
Suprematismus

„malewitsch hat ein buch herausgegeben über seine theorie des suprematismus (vergl. a bis z 9). darin begründet er an experimenten, die er mit kunstschülern gemacht hat, daß die umwelt, in der der künstler schafft, die kunstform, in der er schafft, umbildet und beeinflußt, sodaß der maler, der auf dem lande unter bauern lebt, in einer form arbeitet, die der kunstform entspricht, die unserer zeit des industrialismus vorhergeht. das leben in der stadt, berührung mit industrie und technik wirken auf die form künstlerischer gestaltung. das hat auch engels behauptet […].“

Franz Wilhelm Seiwert, lieber stanislav [Brief an Stanislaw Kubicki], in: a bis z, Heft 17, 1931

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„Der Raum ist ein Behälter ohne Maß, in ihm schafft der Geist sein Werk. Auch ich möchte meine schöpferische Form vorstellen.

Die gesamte bisherige und heutige Malerei vor dem Suprematismus, die Skulptur, das Wort und die Musik, waren Sklaven der Naturformen; sie warten auf ihre Befreiung, um ihre eigene Sprache sprechen zu können und nicht mehr abhängig zu sein vom Verstand, vom Sinn, von der Logik, Philosophie, Psychologie und von verschiedenen Gesetzen der Ursächlichkeit sowie der technischen Veränderung des Lebens.

[…]

Schöpfung gibt es nur dort, wo eine Form im Bild erscheint, die sich an nichts Vorgegebenes in der Natur hält, sondern aus der malerischen Masse entsteht und die ursprünglichen Formen der Natur weder kopiert noch verändert.

[…]

Ich fasse verallgemeinernd zusammen: Der Futurismus strebt über die akademischen Formen zum Dynamismus der Malerei; der Kubismus durch Zerstörung der Gegenstände zur reinen Malerei. Und beide streben im Grunde zum Suprematismus der Malerei, zum Triumph über die zweckhaften Formen des schöpferischen Verstandes.“

Kasimir S. Malewitsch, Vom Kubismus zum Suprematismus in der Kunst, zum neuen Realismus in der Malerei, als der absoluten Schöpfung, 1915

Kasimir Sewerinowitsch Malewitsch, Suprematism (Supremus No. 58), 1916. Kunstmuseum Krasnodar © gemeinfrei

Kasimir Sewerinowitsch Malewitsch, Suprematism (Supremus No. 58), 1916. Kunstmuseum Krasnodar © gemeinfrei

„Ich dagegen habe in der Null der Formen eine neue Gestalt gefunden und bin über die Null hinaus zum Schöpferischen gelangt, d. h. zum Suprematismus, zum neuen Realismus in der Malerei – zum gegenstandslosen Schaffen. Der Suprematismus ist der Beginn einer neuen Kultur.“

Kasimir S. Malewitsch, Vom Kubismus und Futurismus zum Suprematismus. Der neue Realismus in der Malerei, 1916
De Stijl

„1. Es gibt ein altes und ein neues Zeitbewußtsein.

Das alte richtet sich auf das Individuelle.

Das neue richtet sich auf das Universelle.

Der Streit des Individuellen gegen das Universelle zeigt sich sowohl in dem Weltkriege wie in der heutigen Kunst.

2. Der Krieg destruktiviert die alte Welt mit ihrem Inhalt: die individuelle Vorherrschaft auf jedem Gebiet.

3. Die neue Kunst hat das, was das neue Zeitbewußtsein enthält ans Licht gebracht: gleichmäßiges Verhältnis des Universellen und des Individuellen.

4. Das neue Zeitbewußtsein ist bereit, sich in allem, auch im äußerlichen Leben, zu realisieren.

5. Tradition, Dogmen und die Vorherrschaft des Individuellen (des Natürlichen) stehen dieser Realisierung im Wege.

6. Deshalb rufen die Begründer der neuen Bildung alle, die an die Reform der Kunst und der Kultur glauben, auf, diese Hindernisse der Entwicklung zu vernichten, so wie sie in der neuen bildenden Kunst – indem sie die natürliche Form aufhoben – dasjenige ausgeschaltet haben, das dem reinen Kunstausdruck, der äußersten Konsequenz jeden Kunstbegriffs, im Wege steht.

7. Die Künstler der Gegenwart haben, getrieben durch ein und dasselbe Bewußtsein in der ganzen Welt, auf geistlichem [geistigem] Gebiet teilgenommen an dem Weltkrieg gegen die Vorherrschaft des Individualismus, der Willkür. Sie sympathisieren deshalb mit allen, die geistig oder materiell, streiten für die Bildung einer internationalen Einheit in Leben, Kunst, Kultur.

8. Das Organ Der Stil, zu diesem Zweck gegründet, trachtet dazu beizutragen, die neue Lebensauffassung in ein reines Licht zu stellen.

9. Mitwirkung aller ist möglich durch:

I. Als Beweis von Zustimmung, Einsendung (an die Redaktion) von Namen (genau), Adresse, Beruf.

II. Beiträge im weitesten Sinne (kritische, philosophische, architektonische, wissenschaftliche, literarische, musikalische usw. sowie reproduktive) für die Monatsschrift Der Stil

III. Übersetzung in andere Sprachen und Verbreitung der Ansichten, die in Der Stil veröffentlicht werden.

Unterschrift der Mitarbeiter:  

Antony Kok, Dichter 
Theo van Doesburg, Maler 
Piet Mondriaan, Maler 
Robt. van ´t Hoff; Architekt 
G. Vantongerloo, Bildhauer 
Vilmos Huszar, Maler

Jan Wils, Architekt"

 

De Stijl, Manifest I [Übersetzung], 1918

Theo van Doesburg, Compositie XXII, 1922. Eindhoven, Van Abbemuseum © gemeinfrei

Theo van Doesburg, Compositie XXII, 1922. Eindhoven, Van Abbemuseum © gemeinfrei
Bauhaus

„Das Endziel aller bildnerischen Tätigkeit ist der Bau! Ihn zu schmücken war einst die vornehmste Aufgabe der bildenden Künste, sie waren unablösliche Bestandteile der großen Baukunst. Heute stehen sie in selbstgenügsamer Eigenheit, aus der sie erst wieder erlöst werden können durch bewußtes Mit- und Ineinanderwirken aller Werkleute untereinander. Architekten, Maler und Bildhauer müssen die vielgliedrige Gestalt des Baues in seiner Gesamtheit und in seinen Teilen wieder kennen und begreifen lernen, dann werden sich von selbst ihre Werke wieder mit architektonischem Geiste füllen, den sie in der Salonkunst verloren.

Die alten Kunstschulen vermochten diese Einheit nicht zu erzeugen, wie sollten sie auch, da Kunst nicht lehrbar ist. Sie müssen wieder in der Werkstatt aufgehen. Diese nur zeichnende und malende Welt der Musterzeichner und Kunstgewerbler muß endlich wieder eine bauende werden. Wenn der junge Mensch, der Liebe zur bildnerischen Tätigkeit in sich verspürt, wieder wie einst seine Bahn damit beginnt, ein Handwerk zu erlernen, so bleibt der unproduktive ,Künstler' künftig nicht mehr zu unvollkommener Kunstübung verdammt, denn seine Fertigkeit bleibt nun dem Handwerk
erhalten, wo er Vortreffliches zu leisten vermag.

Architekten, Bildhauer, Maler, wir alle müssen zum Handwerk zurück! Denn es gibt keine ,Kunst von Beruf'. Es gibt keinen Wesensunterschied zwischen dem Künstler und dem Handwerker. Der Künstler ist eine Steigerung des Handwerkers. Gnade des Himmels läßt in seltenen Lichtmomenten, die jenseits seines Wollens stehen, unbewußt Kunst aus dem Werk seiner Hand erblühen, die Grundlage des Werkmäßigen aber ist unerläßlich für jeden Künstler. Dort ist der Urquell des schöpferischen Gestaltens.

Bilden wir also eine neue Zunft der Handwerker ohne die klassentrennende Anmaßung, die eine hochmütige Mauer zwischen Handwerkern und Künstlern errichten wollte! Wollen, erdenken, erschaffen wir gemeinsam den neuen Bau der Zukunft, der alles in einer Gestalt sein wird: Architektur und Plastik und Malerei, der aus Millionen Händen der Handwerker einst gen Himmel steigen wird als kristallenes Sinnbild eines neuen kommenden Glaubens.“

Walter Gropius, Einleitung zum Programm des Staatlichen Bauhauses in Weimar, 1919

Oskar Schlemmer, Signet Bauhaus, 1922 © gemeinfrei

Oskar Schlemmer, Signet Bauhaus, 1922 © gemeinfrei

„Um 1920 brachte der Architekt Walter Gropius […] Feininger, Itten, Kandinsky, Klee, Moholy-Nagy, Muche, Schlemmer zum staatlichen Bauhaus in Weimar zusammen. Es war zum einen das Ergebnis, daß sich aus den theoretischen und künstlerischen Auseinandersetzungen um den ,Arbeitsrat für Kunst' formte. Zum anderen war es ein gewagter aber mutiger und deshalb erfolgreicher Versuch, solche festumrissenen, eigenwilligen Künstlerpersönlichkeiten zu einer gemeinsamen Arbeit zusammenzuführen. […] Das gemeinsame Fundament, das Gropius dem Bauhaus gab, war der Wille zum Experiment, der Wille zum Kommenden, der Wille zur neuen Form. […] Denn, mag man zu dem, was ich mit ,Bauhausarbeit' bezeichnen will, stehen wie man will, sie ist ein klar vorstellbarer, fester Begriff geworden, der wirkt in Deutschland und über Deutschland hinaus […]. […] Man sagt, daß damals Köln die Möglichkeit gehabt hätte, das Bauhaus bei sich aufzunehmen, doch was nicht im allgemeinen Trott geht, liebt man bei uns nicht sehr.“

 

Rogkerus [Franz Wilhelm Seiwert], Das Bauhaus in Dessau, in: Westdeutsche Bauschau, Jg. 2, Heft 27, 1927
„Alle Kunst ist Zeichen ihrer Zeit"

„Gewiß, eine Gruppe von Künstlern muß es sein, die sich den neuen Geist aufnimmt, sich seinem Gesetze beugt und ihm ermöglicht, sich der Materie Künstler – Mensch zu manifestieren. Und daß Menschen desselben Geistes sich zu einer Gruppe vereinigen, will sagen: daß es nicht allein genügt, für sich, als Einzelner, eine Wahrheit zu wissen und zu befolgen, sondern die schwierigere und höhere Aufgabe liegt darin, sie in einer Gesamtheit zu befolgen.

[…]

Ich bin der Ansicht, daß die gesamten Grundlagen der jungen Kunst auf dem Gefühl eines kosmischen Kommunismus ruhen, vor dem der wirtschaftliche Kommunismus ein notwendiger, wenn auch untergeordneter Teil ist. Es ist wichtig, sich dieser Tatsache bis in die einzelnen ästhetischen Funktionen bewußt zu werden, damit wir zur Reinheit der Idee und zu dem Willen ihres Gesetzes gelangen.“

Otto Freundlich, An die Novembergruppe [Brief], 1919

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„Meine Auffassung von Kunst ist, daß sie ein Gleichnis des Lebens bildet; daß allen Künsten gemeinsam die Dichtung ist. Dichtung im Sinne, dicht machen. (Das Chaos, Formlose, gedichtet zur Gestalt.) Und jede Kunst dichtet in ihrer Sprache in dem ihr gemäßen Material. Ein Maler hat die Aufgabe, die ihm und seiner Zeit allein eigene Form- und Farbsprache zu schaffen. (Form, nicht als Hohlform, sondern sichtbar werden des Gehalts.)“

Marta Hegemann, Rede vor der Gemeinschaft deutscher und österreichischer Künstlerinnenvereine aller Kunstgattungen [Manuskript], Ende der 1920er Jahre

Franz Wilhelm Seiwert, Das tägliche Brot, 1923. Duisburg, Wilhelm-Lehmbruck-Museum © Rheinisches Bildarchiv Köln, um 1976/1978, rba_c000524

Franz Wilhelm Seiwert, Das tägliche Brot, 1923. Duisburg, Wilhelm-Lehmbruck-Museum © Rheinisches Bildarchiv Köln, um 1976/1978, rba_c000524

„Was wir arbeiten, arbeiten wir für die Menschen, das sind die Armen. Und wenn ihr die Armen seid, so arbeiten wir für euch. Wir wollen keine Bilderchen malen, die sich der Satte über sein Sofa hängt, daß sie ihm seinen Mittagsschlaf versüßen. […] Wir wollen auch keine Bildchen machen, wo die Welt schön und alles so gut ist. Denn die Welt ist nicht schön und es ist nicht alles so gut.“ Franz Wilhelm Seiwert, Krupp-Krüppel, in: Sozialistische Republik, 1920

„Alle Kunst ist Zeichen ihrer Zeit. Und noch in ihrem Mühen, das wahre Gesicht der Zeit zu verdecken, enthüllt sie Sehenden die Zeit.“

Franz Wilhelm Seiwert, Über Architektur, in: Die Rheinlande, Jg. 29, 1919
Kunst als Widerstand

„Schlagt sie tot, diese Schweine. Mögen sie gegenseitig an ihrer Armut saugen und endlich zugrunde gehen. Die Kräfte, die durch Gott und für Gott gezeugt werden, sind nicht für den Rachen von Parasiten. Was wir im einzelnen tun werden, das wissen wir noch nicht; aber wir wissen, daß wir die Geißel in der Hand behalten und mit Wucht das Geschmeiß zusammenschlagen werden, das die Erneuerung der Erde verhindert.“

Otto Freundlich, Die Lach-Rackete, in: Bulletin D, 1919

Franz Wilhelm Seiwert, Erkenntnis der Welt treibt zur Änderung der Welt, um 1924 © gemeinfrei

Franz Wilhelm Seiwert, Erkenntnis der Welt treibt zur Änderung der Welt, um 1924 © gemeinfrei

„Für heutige Kunst-Schaffenmüssende kann es nur diese Wege geben:

der erste, Nicht zu schaffen, Welt zu zerschlagen, Abbruch, Lossagen von allem Bestehenden, bis jetzt Erkannten und Anerkannten;

der zweite, Mitlebenden alle Sicherheit zu nehmen, sie hinter allem das Nichts sehen zu lassen, sie wie mit Schlägen immer wieder zur Besinnung zu zwingen;

der dritte, darüber hinaus das große Neue, den beginnenden Weg voll Verheißung, Sehnsucht und Qual hinzustellen.“
 

Franz Wilhelm Seiwert, Tendenzkunst [Manuskript], ca. 1920
Die Kalltal-Presse

Zu den zentralen Anliegen der Kalltalgemeinschaft zählte die Herausgabe eigener Schriften. Dies verband sie mit vielen Künstlergruppen dieser Zeit, denn hier konnten literarische und bildkünstlerische Konzepte produktiv verknüpft werden. Die Publikationen der Kalltal-Presse dokumentieren – und produzieren wohl auch – das Gemeinschaftsverständnis, das die Kalltalgemeinschaft geprägt hat.

Eine Übersicht

Karl Zimmermann [Käthe Jatho-Zimmermann], Der Hauptmann Deutschle. Ein Buch für Enkel, 1919
(Bd.1, verlegt vom Verlag Rascher & Cie., Zürich)

Franz Nitsche, Zwischen Morgen und Abermorgen. Zeichnungen und Aufzeichnungen, 1919
(Bd. 2, verlegt vom Verlag Eugen Diederichs, Jena, mit 12 Tafeln)

Karl Zimmermann [Käthe Jatho-Zimmermann], Die Gemeinschaft der Einsamen. Eine Huldigung dem Christentum in seinen Genien Platon / Franziskus / Richard Wagner / Friedrich Nietzsche, 1919
(Bd. 3, verlegt vom Verlag Eugen Diederichs, Jena)

Franz Wilhelm Seiwert, Welt zum Staunen. Ein Bilderbuch in sechs vom Stock gedruckten Schnitten. Mit Versen von Freunden, 1919
(Bd. 4, verlegt von der Kalltal-Presse)

Erstes Jahrbuch der Kalltalgemeinschaft
(Bd. 5, nicht erschienen)

Carl Oskar Jatho, Von der Gesellschaft zur Gemeinschaft, 1920
(Bd. 6, verlegt vom Verlag Eugen Diederichs, Jena)

Franz Wilhelm Seiwert, Rufe, 1920
(Bd. 7, verlegt vom Ziegelbrenner-Verlag, Holzschnitte [7 Stück] und Worte)

Karl Zimmermann [Käthe Jatho-Zimmermann], Himmelfahrt der Venus, 1920
(Bd. 8, verlegt vom Verlag Eugen Diederichs, Jena, mit Grafiken von Franz Wilhelm Seiwert)

Franz Wilhelm Seiwert, Sieben Klänge zum Evangelium Johannis, 1920
(Bd. 9, verlegt vom  Kairos-Verlag, Köln, 7 Schnitte)

Charles-Louis Philippe, Das Verbrechen der Monsieur-le-Prince-Straße, 1920
(Bd. 10, nicht erschienen, folgendermaßen angekündigt: „aus dem Französischen v. Käthe Jatho-Zimmermann, mit Grafiken von Franz Wilhelm Seiwert, verlegt vom Kairos-Verlag, Köln“)

Franz Nitsche, Illustration in „Zwischen Morgen und Abermorgen“, 1916-18 © gemeinfrei

Franz Nitsche, Illustration in Zwischen Morgen und Abermorgen, 1916-18 © gemeinfrei

„Es wurde dieser Gemeinschaft aber dasselbe Schicksal zuteil wie so vielen ähnlichen Unternehmungen heute: sie blieb in den Anfängen stecken. Die Presse kam zwar zustande, es ist aber auf ihr nur ein einziger Druck, der vierte unter zehn Druckschriften (Franz Wilhelm Seiwert, Welt zum Staunen, 1919) entstanden, während die übrigen im Buchhandel erschienen sind.“

Julius Rodenberg, Deutsche Pressen. Eine Bibliographie, 1925
Käthe Jatho-Zimmermann: Der Hauptmann Deutschle

„Doch die guten Kreise in Köln waren nicht ausgestorben; sie stellten sehr bald das leidende geistige Ansehen der Stadt wieder her. Es ging aus ihrer Mitte ein Buch hervor, das […] für die alten und neuen, die unvergänglichen Würden der Rheinmetropole eintrat und dem Zeitgerede von ,Menschenmaterial' und Alldeutschtum tapfer entgegentrat. […] Man hat gesagt, daß dies Buch, das schon damals die Teufeleien der zwölf Jahre heraufkommen sah, neben Leonhard Franks Der Mensch ist gut vielleicht das einzige gedruckte Bekenntnis zur klaren Menschlichkeit in jenen vier Jahren des versinkenden wilhelminischen Deutschlands gewesen sei.“

Carl Oskar Jatho, Eine Stadt von Welt. Köln vordem und hernach, 1958

Cover Karl Zimmermann [Käthe Jatho-Zimmermann], Der Hauptmann Deutschle. Ein Buch für Enkel, 1919 © gemeinfrei

Cover Karl Zimmermann [Käthe Jatho-Zimmermann], Der Hauptmann Deutschle. Ein Buch für Enkel, 1919 © gemeinfrei

„Mütter, die mit Freuden ihre Söhne ‚dahingeben‘ -! Väter, die in der Zeitung annoncieren, dass sie stolz sind auf eben dieser Söhne ‚Heldentod‘ -! Bräute, die den Sturmangriff  nicht abwarten können, bei dem ihr Theodor das Eiserne Kreuz erringt -! […] Wieder liess ich halb Deutschland an mir vorbeigleiten und nichts regte sich um mich. Kam denn kein Weinen an mein Ohr? Kein Schrei, kein Wutgeheul? Kein Fluch der Millionen an mein Ohr? Kein Ausbruch des Hasses, des Ekels über diese Selbstentmenschung? Kein Gebet? Nein. […] Ich sah die Menschen dösen, sah sie lachen, Bier trinken, schwatzen, ihre Zeitung lesen in Ergebung.“

Karl Zimmermann [Käthe Jatho-Zimmermann], Der Hauptmann Deutschle. Ein Buch für Enkel, 1919
Franz Nitsche: Zwischen Morgen und Abermorgen

Bei dem Werk Zwischen Morgen und Abermorgen. Zeichnungen und Aufzeichnungen von Franz Nitsche (1887–1952), Maler und Bühnenbildner, handelt es sich um eine Sammlung von Briefen und tagebuchartigen Aufzeichnungen, die er seit 1916 aus seinem Kriegseinsatz an die Kölner Freunde geschickt hatte. Vorbild für diese Art der Zusammenstellung könnte das Werk Lettre d‘un soldat [Briefe eines Soldaten] in der Reihe Europäische Bücher im Züricher Max Rascher Verlag gewesen sein, das Käthe Jatho-Zimmermann kannte. Zwischen Morgen und Abermorgen ist die einzige literarische Veröffentlichung, die von Nitsche erschien. Ergänzt werden die Texte durch 12 Grafiken von ihm.

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„Auf seinem letzten Urlaub vor der Gefangennahme wurde Nitsche von Freunden bedeutet, es werde bald ein Buch von ihm erscheinen, und dies Buch solle dazu helfen, ihm das Leben zu retten. […] Als nun diese Briefblätter, von dem Sommerurlauber noch flüchtig geordnet, im Herbst des Jahres 1918 in Druck gingen, war der, der sie uns gab, verschollen. […] In der Qual solcher Verdammnis wurden seine Worte immer karger, das bedeutet hier: sie wurden immer wesentlicher, immer dichter, immer mehr Gedicht; ähnlich wie seine Zeichnung immer mehr Zeichen wurden. […] Aber das Buch blieb um seiner selbst willen nötig; denn es ist eines der wenigen ,Kriegsbücher' die mit dem ,Geist' des Krieges nicht im Bunde sind.“

Carl Oskar Jatho, Nachwort, Köln im Januar 1919, in: Franz Nitsche, Zwischen Morgen und Abermorgen. Zeichnungen und Aufzeichnungen, 1919

Franz Nitsche, Illustration in Zwischen Morgen und Abermorgen, 1916-18 © gemeinfrei

Franz Nitsche, Illustration in Zwischen Morgen und Abermorgen, 1916-18 © gemeinfrei

„Hört Ihr Stimmen von neuem Glauben predigen?
Hört Ihr Lieder von neuer Liebe singen?
Sehr Ihr Menschen begeistert von neuer reifer Tat?
[…]
Wo ist der Große, der Mensch,
der starke Einsiedler,
der die Kraft hat, mit Feuer zu taufen?!
Freunde, was hörtet Ihr von solchem Menschen?“

Franz Nitsche, Zwischen Morgen und Abermorgen. Zeichnungen und Aufzeichnungen, 1919
Käthe Jatho-Zimmermann: Die Gemeinschaft der Einsamen

„Einsamer, dem dies Buch sich dankt: Friedrich Nietzsche, vergib mir dieses Buch. Tat ich doch nur, wozu dein Geist mich trieb, als ich Dich unterliegen ließ der Freundschaft zu Deinen bittersten Feinden: […]. […] Meine ,Verleugnung', die Du mich lehrtest, ist keine Überzeugung – sie ist eine Frage, Friedrich Nietzsche. Die Frage: Was ist Christentum? […] Oder gibt es ein Christentum, das Kult des Allerheiligsten, Allergeistigen ist; dessen Vater Platon, dessen Heiliger Franziskus, dessen Wiedergeburt Parsifal? Kein Zweifel […].“

Karl Zimmermann [Käthe Jatho-Zimmermann], Die Gemeinschaft der Einsamen. Eine Huldigung dem Christentum in seinen Genien Platon / Franziskus / Richard Wagner / Friedrich Nietzsche, 1919

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Die Gemeinschaft der Einsamen wurde als dritte Druckschrift der Kalltalgemeinschaft 1919 unter dem Pseudonym von Käthe Jatho-Zimmermann – Karl Zimmermann – veröffentlicht. Der Schrift ist eine Widmung an Heinz Jatho, dem verstorbenen Bruder von Carl Oskar Jatho, vorangestellt. Jatho-Zimmermann gliedert ihr Werk in die beiden Teile Die Einsamen und Die Gemeinschaft und ordnet dem ersten die Unterkapitel Im Garten des Akademos, La Vernia und dem zweiten das Unterkapitel Die Conversion des Anti-Christ zu. Damit widmet sie allen im Untertitel genannten Protagonisten ein Kapitel: Eine Huldigung dem Christentum in seinen Genien Platon / Franziskus / Richard Wagner / Friedrich Nitzsche. In einer Apologie zum Ende fasst Jatho-Zimmermann ihre Gedanken zusammen, die sich der zentralen Frage „Was ist Christentum?“ widmen.

 

„Diese Gedanken wurden zuerst Wort vor Menschen, die an Winter- und Frühlingsabenden des dritten Jahres dieses Kriegs sich bei mir einfanden. Einem Geopferten, der einst mit unter ihnen sass: Heinz Jatho sei das Gewordene Gruss.“

Karl Zimmermann [Käthe Jatho-Zimmermann], Die Gemeinschaft der Einsamen, 1919

„Seiwert saß nun alle vierzehn Tage mit unter den Zuhörern unserer Vorträge. Er hörte Huldigungen an Platon, an den heiligen Franz von Assisi, Würdigungen und Auseinandersetzungen über das Werk Richard Wagners und Friedrich Nietzsches; […].“

Carl Oskar Jatho, Der junge Seiwert. Erinnerungen, in: Hoerle und Seiwert. Moderne Malerei in Köln zwischen 1917 und 1933. Eine Monographie, hg. von Hans Schmitt-Rost, 1952
Franz Wilhelm Seiwert: Welt zum Staunen und Sieben Klänge zum Evangelium Johannis

Das 4. Druckwerk der Kalltal-Presse Welt zum Staunen von Franz Wilhelm Seiwert ist in erster Linie durch die grafischen Arbeiten von Seiwert bestimmt. Es sind 6 Werke, die vermutlich 1917 geschnitten und dann 1919 gedruckt wurden. Diese sind mit Versen von Freunden versehen.

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Zur selben Zeit entstanden auch die grafischen Arbeiten von Seiwert für die Publikation Sieben Klänge zum Evangelium Johannis. Anlass hierfür waren die Leseabende bei Carl Oskar Jatho und Käthe Jatho-Zimmermann in ihrer Kölner Wohnung noch bevor sie gemeinsam nach Simonskall gingen. In beiden Werken lassen sich in den Themen und in der Gestaltung lassen Verwandtschaften zu den Künstlern des Blauen Reiters wie Wassily Kandinsky oder Franz Marc erkennen.

Franz Wilhelm Seiwert, Illustration in Sieben Klänge zum Evangelium Johannis, um 1917 © gemeinfrei

Franz Wilhelm Seiwert, Illustration in Sieben Klänge zum Evangelium Johannis, um 1917 © gemeinfrei

„Fragt nur seine Geschöpfe: diese Steine, diese Bäume und Blätter, diese Wolken, Luft, Wasser und Erde. Seht sie Euch genau an, […] und wenn Ihr einmal an die Grenze kommt, wo Ihr das Geheimnis jedes außermenschlichen Wesens ahnt; ahnt, daß aus ihm eine Sprache nach einer anderen Seite gerichtet ist als der menschlichen, jedes von ihnen eine Antwort von dorther vernimmt, nur der Mensch nicht; dann schwört Ihr endlich ab diesem armgewordenen Geist und seinen armen Methoden, die nichts deuten können, sondern nur Leichen bestatten.“ Otto Freundlich, Welt – Urwelt, 1918

„Wir haben viel miteinander gelesen, gesprochen und geplant. Unter anderem lasen wir Gesänge aus der Odyssee, befaßten uns mit der Bergpredigt und dem Evangelium Johannis […]. Das Johannesevangelium wirkte so stark auf ihn, daß er darüber nachdachte, wie er Gehalt und Gestalt der Urkunde in die Bildfläche projizieren könne. Es entstand (man schrieb 1917) eine Folge symbolischer, allem Illustrativen entsagender Schnitte. Er benannte die Folge, die später als Mappe beim Kairos-Verlag erschien: Klänge zum Evangelium Johannis. Etwa um die gleiche Zeit, vermutlich schon einige Monate früher, entstand eine Arbeit unter dem Titel: Welt zum Staunen, eine Holzschnittfolge, in der Seiwert den Kreis des Elementaren, vom Geheimnis der Mutter-Kindschaft bis zum Geheimnis des kosmischen Raumes, für ein Kind zu umschreiben versuchte. Zu Beginn des Jahres 1919 ließen wir die Folge drucken, als Bilderbuch.“

Carl Oskar Jatho, Franz Wilhelm Seiwert, 1964
Carl Oskar Jatho: Von der Gesellschaft zur Gemeinschaft

„[W]ollen die Menschen aus dem Gegeneinanderleben denn nie sich aufraffen zum Miteinanderleben, zum Füreinanderleben? oder strenger ausgedrückt: wollen sie nie aus der Gesellschaft zur Gemeinschaft werden? […] Angesichts solcher Freiheit: sehnst du dich da nicht nach dem Terror des Geistes? Dem furchtbar schönen Schrecken des Geistes! Er allein wandelt die Kunst aus der Prostituierten der Gesellschaft zur Dienenden der Gemeinschaft. Er schafft das eine mit dem anderen. Dann wird sein statt einer Gesellschaft von Leuten eine Gemeinschaft von Menschen, in der die Kunst das Heilverkündende, Seelenbindende, zu höchsten Liebe Verpflichtende: ein Sakrament, ist.“

Carl Oskar Jatho, Von der Gesellschaft zur Gemeinschaft, 1920

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Die Schrift Von der Gesellschaft zur Gemeinschaft von Carl Oskar Jatho aus dem Jahr 1920 verweist in ihrem Titel auf das Werk Gemeinschaft und Gesellschaft von Ferdinand Tönnies und stellt die programmatischste Auseinandersetzung der Schriften der Kalltal-Presse mit dem Gemeinschaftsbegriff dar.

„Wie die sogenannte Gesellschaft, so ist auch unsere Gemeinschaft die Verkörperung des Geistes, der sie erfüllt. Um den dienend herrschenden Kern der Gemeinde liegen umlaubt im Gartenland die Hütten, in freier Abhängigkeit, in abhängiger Freiheit. Einsiedler, Zweisiedler und Familien, einsam gemeinsam – wie es dem menschlichen Wesen gemäß ist. Und sinnvoll, wie das Gelände und das Bedürfnis heischen, liegen verteilt Ställe und Speicher und Stätten des Handwerks.“

Carl Oskar Jatho, Von der Gesellschaft zur Gemeinschaft, 1920
Franz Wilhelm Seiwert: Rufe

Die kleine Schrift Rufe von Franz Wilhelm Seiwert sollte bereits 1919 erscheinen, wurde dann aber 1920 in Ret Maruts Ziegelbrenner-Verlag gedruckt. Es ist eine Zusammenstellung von kurzen Einzeltexten in Gedichtform sowie sieben Holzschnitten, die mit Sätzen oder Wörtern versehen sind, etwa: „Karl Liebknecht Rosa Luxemburg“, „Und das Licht leuchtet in die Finsternis; doch die Finsternis hat es nicht erfaßt“, „Revolution“, „Die Sendung des Geistes“ oder „Ihr Menschen vereinigt euch“.

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„Ihr Spieler des Lebens!

Ihr Spieler des Lebens! Ihr glaubt das Leben zu haben

und habt immer nur seine Geste.

Wo ist der, der den Mut hat, zu sein? Der besinnungslos

sein Dasein ins Grenzenlose zu steigern vermag?

[…]

O eure schöne Form!

Ich hasse euch und eure schöne Form. Hinter ihr ist Tod.

Ganz will ich das Ganze. Ganz bis zu Ende.

Ohne die Form, die Geste ist.

[…]

O die unendliche Tiefe der Welt!

Herauf! Heraus!

Ich will euch!

Ich bin stark, euch zu tragen!

[…]

Dumpf zerschlage meine Faust die Welt.

[…]

Es gibt kein Ende. Hinter jedem Ende immer wieder

ein Anfang.“

Franz Wilhelm Seiwert, Ihr Spieler des Lebens!, in: Franz Wilhelm Seiwert, Rufe, 1920

Franz Wilhelm Seiwert, Illustration in Rufe, um 1919/20 © Rheinisches Bildarchiv Köln, rba_mf160505

Franz Wilhelm Seiwert, Illustration in Rufe, um 1919/20 © Rheinisches Bildarchiv Köln, rba_mf160505

„Den für die Revolution Gefallenen Heil den Menschen, die ihr Leben durch die Tat erfüllten! […] Ihr, die Ihr Euer Leben hinwerfen könnt! Ihr unsere Heiligen, unsere Märtyrer! Wir glauben an Euch! Wir glauben an den Geist, der nicht stirbt!“ Franz Wilhelm Seiwert, Den für die Revolution Gefallenen, in: Franz Wilhelm Seiwert, Rufe, 1920

„Heute oder in hundert Jahren!

Heilige Armut aus Erkenntnis der Sünde des Reichtums geworden. Heilige Arbeit am Menschen, der Erde. Heilige Liebe zum Mitmenschen, zum Bruder.“

 

Franz Wilhelm Seiwert, Heute oder in hundert Jahren!, in: Franz Wilhelm Seiwert, Rufe, 1920
Käthe Jatho-Zimmermann: Himmelfahrt der Venus

Der Band mit Gedichten von Käthe Jatho-Zimmermann erschien 1920 als achter Band der Kalltal-Presse im Eugen Diederichs Verlag. Franz Wilhelm Seiwert trug vier grafische Arbeiten zur Ausstattung des Werkes bei, darunter auch das Cover. Ein Großteil der Gedichte kreisen um Liebe und Erotik. Darüber hinaus finden sich auch längere Prosagedichte außerhalb dieses Themenkreises wie Dem Bildenden. Jatho-Zimmermann greift in ihren Gedichten, wie im Titel angezeigt, auch Motive aus der griechischen Mythologie und dem Christentum auf. In Himmelfahrt der Venus ist auch das Gedicht Gemeinschaft enthalten, das sie Angelika und Heinrich Hoerle anlässlich eines Besuches der beiden in Simonskall gewidmet hat.

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„Paare

Durch den golden glastenden Abend trug sie ihr jungfräuliches Herz der Nacht entgegen, die zum Weibe macht. Leicht zweieinig war ihr Gang und seines Zieles sicher: von allen Wegen der Welt wußten ihre festen Füße nur einen Weg. Weitglänzend erhoben war ihr Blick und wie erblindet vor Gewißheit: von aller Schönheit der Erde wußten ihre tiefen Augen nur die eine Schönheit. Hinter fernen Bergen klagte eine Flöte, träufelte unendlicher Irrsal schwermutsvolle Süße ins Ohr des erschauernden Abends. Sie aber lauschte einzig dem vollkommenen Gang des Glücks in ihrem Busen.

Der Tag hatte von ihm kein Werk empfangen, und der Abend kam zu ihm, die Hand voll Leere. Wie der Schoß eines gekauften Weibes, ohne Scham und ohne Güte, bot sich die Stille seinen schweifenden Schmerzen dar. Und zynisch warf er seine Kraft in ihre Tiefe.“

Karl Zimmermann [Käthe Jatho-Zimmermann], Himmelfahrt der Venus, 1920

 

„Mein Haar stürzte

In deine Küsse,

Mein Mund ging unter

In deinem Mund,

Mein Leib war Woge,

Deinem Leib.

Deine Begierde begehrte ich.

Deine Erfüllung erfüllte mich.

In dein Versinken

Versank ich.

Du wurdest still.

Schweigend empfand ich dich

Und schloß mich schweigend in mich hinein.

Und lag noch lange allein mit tiefen Sinnen

Und wußte, wie alles kam und kommt,

Und wußte,

Daß meine Liebe dich einsam macht –

Und schaute mild von oben in mich hinein

Und lächelt meiner Knechtschaft, meiner Freiheit,

Meines qualvollen Glückes.“

Karl Zimmermann [Käthe Jatho-Zimmermann], Himmelfahrt der Venus, 1920

Franz Wilhelm Seiwert, Illustration in Himmelfahrt der Venus, 1920 © gemeinfrei

Franz Wilhelm Seiwert, Illustration in Himmelfahrt der Venus, 1920 © gemeinfrei

„Stern und Sturm und Sterben: alle fernen Geliebten sind schön. Alle fernen Liebesmunde küssen mich, wenn ich schlafe. Darum ist Schlafen süß. Darum allein ist Schlafen notwendig. Meinst du denn, wir möchten noch einmal, noch immer und wieder die Augen schließen, wüßte nicht unser waches Ein sein schlafendes Sinken ins Gemein? Stern und Sturm und Sterben: alle fernen Geliebten sind nah.“

Karl Zimmermann [Käthe Jatho-Zimmermann], Himmelfahrt der Venus, 1920
Werkschau

Für die Künstlerinnen und Künstler der Kalltalgemeinschaft waren die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg eine quantitativ und qualitativ äußerst produktive Zeit. Sie wurden Mitglieder in verschiedenen Künstlergruppen und beteiligten sich an Ausstellungen und Zeitschriften. Neben den Schriften der Kalltal-Presse schufen sie zahlreiche weitere Werke.

Franz Wilhelm Seiwert – progressiver Aktionist von a bis z

Neben seinem künstlerischen Wirken in Simonskall war Franz Wilhelm Seiwert um 1919 vor allem in der Kölner DADA-Szene, konkret in der Gruppe D um Max Ernst, Hans Arp und Theodor Baargeld, aktiv. Einige Künstler aus diesem Umfeld, neben Seiwert auch Angelika und Heinrich Hoerle, kehrten der Gruppe D den Rücken und gründeten die stärker politisch ausgerichtete DADA-Gruppe stupid. Aus diesem Kreis wiederum ging die gruppe progressiver künstler hervor. Zusammen mit Heinrich Hoerle gab er die Zeitschrift a bis z. organ der gruppe progressiver künstler heraus. Seiwert stand auch in Verbindung mit der Düsseldorfer Kunstszene, dem Jungen Rheinland und dem Aktivistenbund, darunter Jankel Adler oder Otto Dix.

Seiwerts künstlerische Arbeiten in Simonskall sind vom Spätexpressionismus geprägt, während er in seiner Zeit bei der gruppe progressiver künstler zu seiner figurativ-konstruktivistischen Formensprache findet.

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„Endlos rollendes Rad

[...]

Und die Tiere, unsere nächsten Genossen! Nur manch-

mal noch bäumen sie sich auf/irrt ihr Schrei durch

den Raum/suchen ihre guten, sanften, leidenden Augen

das Du/Gott.

[…]

Ihr Glücklichen. Ihr Tiere.

Wir armen Menschen!“

 

Franz Wilhelm Seiwert, Endlos rollendes Rad, in: Franz Wilhelm Seiwert, Rufe, 1920

 


„Darum warne ich vor allem, was versucht, über einen Umweg, auf einem Weg, der außerhalb des Werkes liegt, Gesinnung in das Werk zu tragen, die nicht im Werk ist. ,Gesinnung ist, was einer mit seinem ganzen Leben tut.' Was also in dem Werk, das er schafft, sichtbar wird.“

Franz Wilhelm Seiwert, Tendenzkunst [Manuskript], ca. 1920

Franz Wilhelm Seiwert, Glasfensterentwurf Café Namur, 1928 © gemeinfrei

Franz Wilhelm Seiwert, Glasfensterentwurf Café Namur, 1928 © gemeinfrei

Architekturbezogene Werke von Franz Wilhelm Seiwert, etwa ein Deckenbild im Hause Mevissen in Köln oder ein Wandbild an der Fassade eines Kölner Buchladens, das er gemeinsam mit Heinrich Hoerle gestaltete, sind heute nicht mehr erhalten. Seiwert schuf auch eine Reihe von Glasbildern und Glasmosaiken, die ebenfalls vielfach zerstört sind. Zu diesen Arbeiten gehört auch das Glasfenster "Christus im Ruhrgebiet", das sich heute im LVR-LandesMuseum Bonn befindet und als Kopie Teil der Ausstattung der evangelischen Emmanuelkirche in Köln ist.

„Wie diese frühen Blätter nicht auffindbar sind, so das meiste […]. Auch von den Kleinplastiken, die damals entstanden, […] sind die Originale fast alle verloren und zumeist ebenso die Abgüsse […]. Untergegangen oder verschollen sind auch die meisten Arbeiten der anderthalb Jahre seines Aufenthaltes bei uns im Eifeler Kalltal. […] Von dem, was dort, in vollkommener Arbeitsstille, dem Künstler reifte: unter vielem andern eine als Fenstermusivik gedachte Kreuzigung, eine Tonplastik Der Rufer (der eine Ideenverbindung mit einer ausgestellt gewesenen Lithographie von Munch aus dem Vortragswinter 1916/17 aufweist) und eine große Holzskulptur. Von all diesem blieb Der Rufer erhalten und möglicherweise die große Skulptur. […] Diese frühe Kunst Seiwerts war der Ausdruck eines leidvollen Ertragens der Welt wie des immer wiederholten Versuchs, den physisch-metaphysischen Gewalten, dem Rätsel Leben gegenüber sich ins Rechte zu denken. Noch entsinne ich mich der Bilder, die er auf die Wände des alten Eifeler Hauses malte, in dem wir wohnten. Es waren Szenen, denen das Gilgamenschepos [sic!] zugrunde lag […].“

Carl Oskar Jatho, Franz Wilhelm Seiwert, 1964
Otto Freundlich – kosmischer Kommunist

„Die optische Moral hält fest an der Verbindung des Menschen mit dem Kosmos und lehrt die Elemente einer kosmischen Moral. Dabei läßt sie die Astronomie ganz außer acht: denn diese Astronomie ist heute nichts weiter als ein historischer Materialismus und Naturalismus. Dagegen zeigt sich in der jüngeren Kunst der Beginn unhistorischer Weltinterpretation und kosmischer Verwirklichungen. […] […] wir fordern die Überordnung der optischen Moral über die praktische Moral. Kunst existiert nicht: es sei denn, sie sei optische Moral und erzeuge praktische Moral, – was dieses Beides aber bedeutet, solche Wege schreiten Generationen nicht zuende.“

Otto Freundlich, Die optische Moral, 1919

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Otto Freundlich lernte schon 1916/17 Franz Wilhelm Seiwert kennen, den er auch im Junkerhaus in Simonskall besuchte. Freundlich zählte nach dem Ersten Weltkrieg zu den Gründungsmitgliedern des Berliner Arbeitsrats für Kunst und der Novembergruppe. Die Kölner Zeitschrift Der Strom, die im Kairos-Verlag von Karl Nierendorf herausgegeben wurde, veröffentlichte 1919 nicht nur Grafiken von Freundlich, sondern auch seinen ersten Entwurf einer ,kosmischen Moral‘. Er schuf darüber hinaus im selben Jahr Beiträge für die prä-dadaistische Kölner Wochenzeitschrift Der Ventilator und das Bulletin D, die Zeitschrift und zugleich Katalog zur Kölner DADA-Ausstellung der Gruppe D um Max Ernst, Hans Arp und Theodor Baargeld war. 1920 versuchte Walter Gropius ihn ans Bauhaus zu holen, was aber am Widerstand der Fakultät scheiterte.

 

 

„Die Lach-Rackete.

Definition: eine Lachrackete unterscheidet sich von den gewöhnlichen Racketen durch das beim Aufsteigen schrill-pfeifende Gelächter. […] Daß sie nicht zur Belustigung da ist, trotz ihres Gelächters, das wird sie beweisen durch die plötzlichen taghellen Beleuchtungen sorgfältig gehüteter Dunkelheiten. […] wir wissen alles, und wir werden alles sagen. […]

Wir schonen nicht das zarte Geschlecht und nicht das unzarte Geschlecht, nicht den käuflichen Penis und nicht die käufliche Vagina, nicht den Schwindel des Weibes und nicht den Schwindel des Mannes und nicht den Schwindel der Familie. Die klugen Bürgerinnen und ihre Hurerei, die klugen Bürger und ihre bockhafte Geilheit soll eine jener Dunkelheiten sein, die die Lackrackete ausblitzt.“

Otto Freundlich, Lach-Rackete, in: Bulletin D, 1919

Otto Freundlich, Komposition, 1911. Paris, Musée d'Art Moderne de la Ville de Paris © gemeinfrei

Otto Freundlich, Komposition, 1911. Paris, Musée d'Art Moderne de la Ville de Paris © gemeinfrei

„Ich brachte die Anschauung der rein flächigen Malerei mit mir, konnte mich darum dem Kubismus nicht anschließen.“ Otto Freundlich, Brief an Sigfried Giedion, [o. D.] Otto Freundlich war seiner eigenen Aussage nach weder vom Expressionismus noch vom Kubismus stärker beeinflusst. Seine erste gegenstandlose Komposition datiert von 1911, aber erst um 1920 ließen die gegenständlichen Bezüge merkbar nach. Nachhaltigen Eindruck machte die Kathedrale von Chartres auf ihn, deren spirituelle Kraft, auch als Abbild einer kosmischen Ordnung, er bei einem Aufenthalt 1914 wahrnahm. Ein starker Symbolgehalt verband sich zukünftig mit seinen Werken. Zudem wurde die Fläche zu einem zentralen Begriff in seinen kunsttheoretischen Überlegungen.

„Otto Freundlich, eine starke Potenz, war philosophischer Universalist. […] Er hatte eine Zeitlang sein Atelier im Nordturm der Kathedrale von Chartres. Dann wieder wechselte er zwischen Paris und Berlin.“

Carl Oskar Jatho, Franz Wilhelm Seiwert, 1964
Angelika Hoerle – Die DADA

Wie auch Otto Freundlich besuchte Angelika Hoerle mit ihrem Mann Heinrich Hoerle das Junkerhaus in Simonskall. Sie war von Anfang an Teil von DADA Köln und beteiligte sich an den ersten Aktivitäten: Sie schuf 1919/20 Beiträge für den Katalog Bulletin D der Gruppe D um Max Ernst, Hans Arp und Theodor Baargeld sowie für die DADA-Zeitschrift die schammade, die von Ernst und Baargeld herausgegeben wurde. Hoerles Wohnung wurde in einem Zeitungsartikel als Dadaheim bezeichnet. Danach wurde sie wie beispielsweise wie ihr Mann, ihr Bruder Willy Fick oder Franz Wilhelm Seiwert Mitglied der stärker politisch ausgerichteten DADA-Gruppe stupid. Sie erkrankte 1922 an Tuberkulose und verstarb bereits ein Jahr später mit nur 23 Jahren.

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Angelika Hoerle arbeitete gemeinsam mit Franz Wilhelm Seiwert, Anton Räderscheidt und Peter Abelen 1919 an der Linolschnittmappe Lebendige in Gedenken an politische Märtyrer. Hoerle schuf hierfür die Porträts von Jean Jaurès, französischer Sozialist, und Eugen Leviné, Anführer der Bayerischen Räterepublik. Daneben wurden die ermordeten Revolutionäre Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Gustav Landauer und Kurt Eisner verewigt.

Angelika Hoerles Reiterin für das Bulletin D aus dem Jahr 1919 vereinigt in dieser Strichzeichnung Elemente von DADA und kubistischer Dekonstruktion gleichermaßen.

1920 schuf Hoerle in ihrem grafischen Beitrag zur DADA-Zeitschrift die schammade eine abstrakte Darstellung aus geometrischen Formen, die sich vermutlich auf den Text von Theodor Baargeld Röhrensiedlung oder Gothik auf der nachfolgenden Seite bezieht.

Angelika Hoerle, ABC-Bilderbuch (Haus), 1920 © Rheinisches Bildarchiv Köln, rba_d036879

Angelika Hoerle, ABC-Bilderbuch (Haus), 1920 © Rheinisches Bildarchiv Köln, rba_d036879

Angelika Hoerles "abc Bilderbuch" war mit 25 Schnitten zum Alphabet geplant und sollte ein Baustein der auch von Franz Wilhelm Seiwert geforderten Kultur des Proletariats sein, das durch die Kunst gestärkt werden sollte. Aufgrund ihres frühen Todes ist die Grafikmappe nie erschienen. Das Ankündigungsblatt des stupid-Verlages hat sich erhalten.

„Die Gemeinschaft der Einsamen“ – Das Epochenjahr 1919

Entdecken Sie im ersten Ausstellungsraum, welche Ereignisse die junge Weimarer Republik geprägt haben und wie sich die rheinische Kunstszene um 1919 darstellte.

„Von der Gesellschaft zur Gemeinschaft“ – Die Gründung der Kalltalgemeinschaft

Entdecken Sie im zweiten Ausstellungsraum, wie es zur Gründung der Kalltalgemeinschaft in Simonskall kam und welche Einflüsse hierfür von Bedeutung waren.

„Zwischen Morgen und Abermorgen“ – Die Kalltalgemeinschaft nach der Kalltalgemeinschaft

Entdecken Sie im vierten Ausstellungsraum, wie es für die Protagonisten der Kalltalgemeinschaft nach ihrer Zeit in Simonskall weiterging.

Meine Sammlung

Entdecken Sie, mit welchen Exponaten Sie Ihr virtuelles Museum bestückt haben.