Von der Gesellschaft zur Gemeinschaft
Die Gründung der Kalltalgemeinschaft
„Wo Gemeinschaft beginnt, beginnt Menschheit. Gemeinschaftsbeginn ist Menschheitsbeginn.“
Carl Oskar Jatho

„Dorthin nämlich waren wir, müde der äußeren und inneren Unform der großen Städte, und nicht zuletzt unter der Einwirkung der Schriften Tolstois, im Frühjahr 1919 abgewandert, und Seiwert hatte sich uns angeschlossen.“

Carl Oskar Jatho, Franz Wilhelm Seiwert, 1964

Geistige Heimat braucht reale Orte

Zwischen 1919 und 1921 wurde das Junkerhaus im ländlichen Simonskall in der Eifel zum Genius Loci für eine Gruppe von Literaten und bildenden Künstlern, die sich den Namen Kalltalgemeinschaft gab. Zum engeren Kreis gehörte das Schriftstellerehepaar Carl Oskar Jatho und Käthe Jatho-Zimmermann nebst dem kleinen Sohn Kurt, der Maler und Bildhauer Franz Wilhelm Seiwert, die über einen längeren Zeitraum vor Ort lebten, sowie der Maler und Bühnenbildner Franz Nitsche. Die Künstler Angelika Hoerle und Heinrich Hoerle sowie Otto Freundlich statteten der Gruppe verschiedene Besuche ab.

Die Suche nach Gemeinschaft

Der Name Kalltalgemeinschaft verweist einerseits auf den Ort und andererseits auf das Selbstverständnis als Gemeinschaft jenseits institutioneller und autoritärer Strukturen.

Die Gruppe lebte und arbeitete dort fern der Großstädte, las und diskutierte gemeinsam Schriften und verwirklichte Projekte, zu denen vor allem die eigens verlegten Publikationen der Kalltal-Presse zählten. Bereits bestehende Konzepte künstlerischer, aber auch gesellschaftlicher und politischer Art wurden vertieft und weiterentwickelt, Netzwerke vor allem in den Zentren der rheinischen Kunstszene gepflegt und ausgebaut.

Aus „Wort-Sache“ sollte „Tat-Sache“ werden, wie es Carl Oskar Jatho 1919 in seinem Aufsatz Vom Wesen der Gemeinschaft in der Zeitschrift Der Strom formuliert hatte.

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„Gemeinschaft

Nacht voll Schrei: und Blut im Mund der

  Liebe,

Und Schmerzenszerrung die zagste Gebärde der Güte,

Und jed‘ Zueinander ein Bäumen der Ichverstrickten,

Und funkelndes Haßgelächter die Sternenblüte.

 

O: Gott ist in ein Grauen vor sich verkehrt,

Und offene Arme sind in sich selbst zur Falle,

Und geliebtes Du ist wütendster Sturz in Ich,

Und ins Grab der Alleinheit eingesiegelt wir alle.

Wir alle: gleich. Wir alle: Gebet an uns alle.

Wir alle: fernstenliebebundverschränkt.

Wir rufen uns auf, wir rufen uns an und staunen,

Wir alle: duvergessen und ichentrenkt.“

 

Käthe-Jatho Zimmermann, Gemeinschaft, in: Käthe-Jatho Zimmermann, Himmelfahrt der Venus, 1920 und Manuskript im Nachlass von Angelika Hoerle mit der Widmung: „Für Angelika und Heinz Hoerle von Käthe Jatho Im Kalltal, am 25. Juni 1919“

Franz Wilhelm Seiwert, Stadt und Land, 1932. Köln, Museum Ludwig © Rheinisches Bildarchiv Köln, Museum Ludwig (ML 76/2996, Köln)

Franz Wilhelm Seiwert, Stadt und Land, 1932. Köln, Museum Ludwig © Rheinisches Bildarchiv Köln, Museum Ludwig (ML 76/2996, Köln)

„Gemeinschaft [will] nichts weiter als mit allgemein bekannten, in allen Schulen gelehrten, auf allen Kanzeln gepredigten Worten ernst machen: sie will, daß Wort-Sache Tat-Sache werde. Sie will das Gelehrte leben. […] Gemeinschaft [ist] der Wille zur Ueberwindung der Gesellschaft. […] So ist sie nicht nur möglicherweise möglich, sondern in der Tat leibhaftig […]. Wahre Gemeinschaft ist Menschheit, bevor sie Menschheit wird. […] Wo Gemeinschaft beginnt, beginnt Menschheit. Gemeinschaftsbeginn ist Menschheitsbeginn.“

Carl Oskar Jatho, Vom Wesen der Gemeinschaft, in: Der Strom, Heft 1, 1919
Die Protagonisten

Der engere Kreis der Kalltalgemeinschaft, bestehend aus Carl Oskar Jatho (1884–1997), Käthe Jatho-Zimmermann (1891–1989) und Franz Wilhelm Seiwert (1894–1933), die sich schon seit den Abendveranstaltungen bei den Jathos in den Jahren 1916 bis 1918 in deren Kölner Wohnung kannten, verbrachte ab 1919 längere Zeit am Stück im Junkerhaus in Simonskall.

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Bei Seiwert ist davon auszugehen, dass er Ende 1919 oder Anfang 1920 nach Köln zurückkehrte, 1921 folgte die Familie Jatho. Vor, während und nach dieser Zeit waren Carl Oskar Jatho und seine Frau Käthe Jatho-Zimmermann – sie verwendete das Pseudonym Karl Zimmermann – schriftstellerisch tätig. Franz Wilhelm Seiwert war Maler, Grafiker und Bildhauer und verfasste zahlreiche Texte zur Kunst und Gesellschaft, in denen er einen Zusammenhang zwischen künstlerischer und politisch linker Avantgarde (mit christlich pazifistischem Einschlag) wie kaum ein zweiter Künstler seiner Zeit zu begründen versuchte.

Franz Wilhelm Seiwert, Ländliche Familie [Familie Jatho], 1923. Ort unbekannt, Sammlung Sander © Rheinisches Bildarchiv Köln, 1982, rba_c005125

Franz Wilhelm Seiwert, Ländliche Familie [Familie Jatho], 1923. Ort unbekannt, Sammlung Sander © Rheinisches Bildarchiv Köln, 1982, rba_c005125

„Die Ziele dieser Gemeinschaft waren: gemeinsame Siedelung, gemeinsames Schaffen und Gründung einer eigenen Presse.“

Julius Rodenberg, Deutsche Pressen. Eine Bibliographie, 1925
Wahlverwandschaften

Verschiedene Künstlerinnen und Künstler vor allem aus Köln besuchten das Junkerhaus in Simonskall. Darunter befanden sich etwa Otto Freundlich, Angelika Hoerle und Heinrich Hoerle aus dem Kölner DADA-Umfeld.

Franz Nitsche wurde über seinen engen Freund Heinz Jatho, dem Bruder von Carl Oskar Jatho, mit dem Kreis bekannt und sein Werk Zwischen Morgen und Abermorgen. Zeichnungen und Aufzeichnungen wurde 1919 in der Schriftenreihe der Kalltalgemeinschaft publiziert.

Selbst der sagenumwobene B. Traven alias Ret Marut, Herausgeber der Zeitschrift Der Ziegelbrenner, Aktivist in der Münchener Räterepublik und späterer Autor von Der Schatz der Sierra Madre, hat auf seiner Flucht aus Deutschland Station in Simonskall gemacht. Rückblickend erinnert sich Käthe Jatho-Zimmermann, dass man Ret Marut in Simonskall unter dem Namen Scholl versteckt hielt. Gesichert ist, dass Seiwert die Grafiken Sieben Antlitze der Zeit für das letzte Heft des Ziegelbrenner schuf, bevor Ret Marut 1924 in Mexiko auftaucht.

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„Seiwert traf ihn in Köln; und er vermochte ihn auch mal, mit in die Eifel zu gehen, wo Freundlich, rasch mit den Kalltalern befreundet, sich nicht zierte, zum Weihnachtsfest die bezauberndsten Engel und Judensterne in Buntpapier für den Christbaum zu kleben und mit der Intuitionskraft eines genialen Silhouettisten auszuschneiden. [...] Heinrich Hoerle war von anderer Natur. Die Gelenkigkeit seines Gesprächs faszinierte, nicht minder wie die seiner Hand. Es konnte nicht überraschen, daß die Beweglichkeit und Schärfe des Hoerleschen Intellekts, sein Witz, sein oft grausiger, am schnarchenden Gesellschaftsgewissen rüttelnder Sarkasmus und nicht zuletzt sein großes, reich facettiertes Talent auf Seiwert nicht weniger stimulierend wirkte als die profunde Geistigkeit des um zwanzig Jahre älteren und leider nur stets für kurze Tage und Wochen in Köln weilenden Otto Freundlich.“

Carl Oskar Jatho, Franz Wilhelm Seiwert, 1964

Franz Wilhelm Seiwert, Porträt Ret Marut, um 1919. Mexiko-Stadt, Privatbesitz © Rheinisches Bildarchiv Köln, um 1976/1978, rba_c000540

Franz Wilhelm Seiwert, Porträt Ret Marut, um 1919. Mexiko-Stadt, Privatbesitz © Rheinisches Bildarchiv Köln, um 1976/1978, rba_c000540

„unsere kriegsgegnerschaft und der furchtbare druck, der auf allem lag, schloß unseren kreis sehr fest.“ Franz Wilhelm Seiwert, hoerle und ich, in: a bis z, Heft 10, 1930

„ich gehörte zur kalltalgemeinschaft, die eine siedlung in der eifel versuchte, hoerle gab mal eine gastvorstellung dort. er fand 1 ½ wegstunden für eine zigarette etwas viel und das pfeifen des windes über den bäumen erinnerte ihn an krieg. außerdem mußte er ,menschen über, unter und neben sich haben'. also fuhr er wieder um.“

Franz Wilhelm Seiwert, hoerle und ich, in: a bis z, Heft 10, 1930
„Dilettanten erhebt euch“ – DADA in Köln

Franz Wilhelm Seiwert war auch während seines Aufenthaltes in Simonskall kurze Zeit aktiver Dadaist in Köln, sodass es zu einer Zusammenarbeit mit Max Ernst (Dadamax genannt), Hans Arp und Johannes Theodor Baargeld kam. Seiwert beteiligte sich an der Zeitschrift Der Ventilator sowie an der Zeitschrift Bulletin D, die zugleich als Katalog zur Ausstellung der Gruppe D im November 1919 der Gesellschaft der Künste in den Räumen des Kunstvereins Köln fungierte.

Obwohl Seiwert im Bulletin D vertreten war, zogen er und Anton Räderscheidt ihre Werke von der Ausstellung zurück und distanzierten sich von diesem in Seiwerts Augen bürgerlichen Kunstbetrieb.

Unter dem Namen stupid mit gleichnamiger Publikation gründeten deshalb 1919 Franz Wilhelm Seiwert, Heinrich Hoerle, Angelika Hoerle, Anton Räderscheidt und Marta Hegemann eine eigene Kölner DADA-Gruppe samt Zeitschrift. Derselbe Kreis kam auch unter dem Namen Neukölnische Malerschule zusammen.

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„die gruppe ,stupid' bildete sich mit dauerausstellungen im arbeitsraum räderscheidts, hildeboldplatz 9 und nächtlichem bekleben von bauzäunen mit künstlerischen manifestationen, gegen die, unter andern betroffenen bürgern, der französische konsul einmal die polizei mobil machte.“

Franz Wilhelm Seiwert, hoerle und ich, in: a bis z, Nr. 10, 1930

 

„Unter dem Namen ,Neukölnische Malerschule‘ Hildenboldplatz 9 haben sich hier in Köln Anton Räderscheidt, Heinrich Hoerle, Angelika Hoerle, Martha Hegemann, Wilhelm Fick und ich zusammengetan. Wir wollen jenseits von aller schwatzhaften Geistigkeit einfache Arbeit tun. […] Unsere Bilder stehen im Dienste der Ausgebeuteten, zu denen wir gehören und mit denen wir uns solidarisch fühlen. Deshalb lehnen wir die zur Ergötzung des Bürgers vollführte, angeblich anti-bürgerliche, dadaistische Harlekinade ab, weil wir nicht den Bankrott des Bürgertums, sondern den Schaffenswillen der Massen sichtbar zu machen haben.“

Franz Wilhelm Seiwert, Brief an Pol Michels, vermutlich Herbst 1919

Marta Hegemann, Anzeige für die Ausstellung stupid, 1919 © Rheinisches Bildarchiv Köln, rba_mf187237

Marta Hegemann, Anzeige für die Ausstellung stupid, 1919 © Rheinisches Bildarchiv Köln, rba_mf187237

„Stupid war eine Sezession von Dada-Köln. Die Aktivitäten Dadas waren Hoerle und vor allem Seiwert ästhetisch zu radikal und sozial zu wenig konkret.“

Max Ernst im Gespräch mit Werner Spies, [o. D.]
Menschheitsutopie Gemeinschaft – Christentum, Anarchismus, Syndikalismus, Kommunismus

Die Unterscheidung von Gesellschaft und Gemeinschaft war eine zentrale Denkfigur der frühen Soziologie. Gemeinschaft ist konkreter, dichter, kleiner und sozial verbindlicher als Gesellschaft. Gemeinschaft wurde zum zentralen Begriff vieler gesellschaftlicher Entwürfe dieser Zeit. Sie wurde vor allem nach dem Ersten Weltkrieg für die Traumabewältigung und für einen Aufbruch in eine Gemeinschaft des neuen Menschen beschworen. Das Ideal in Simonskall war ein Gegenmodell zu einer anonymen, durch die kapitalistische Gewalt entfremdeten Massengesellschaft. Es war retrospektiv und prospektiv zugleich und vermischte urchristliche, franziskanische, nietzscheanische, pazifistische und anarchistisch sozialistische Ideen. Es war "eine Huldigung dem Christentum" in einer "Welt zum Staunen", die den Weg "Von der Gesellschaft zur Gemeinschaft" geht. Kunst kommt dabei die Funktion eines "heilsverkündenden Sakraments" zu.

Ferdinand Tönnies

In Gemeinschaft und Gesellschaft von Ferdinand Tönnies wurde 1887 dem zentralen Begriffspaar dieser Zeit eine grundlegende soziologische Studie gewidmet: 

„Alles vertraute, heimliche, ausschliessliche Zusammenleben (so finden wir) wird als Gemeinschaft verstanden. Gesellschaft ist die Öffentlichkeit, ist die Welt. In Gemeinschaft mit den Seinen befindet man sich, von Geburt an, mit allem Wohl und Wehe daran gebunden. Man geht in die Gesellschaft wie in die Fremde." 

Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, 1887

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„Freundschaft wird von Verwandtschaft und Nachbarschaft unabhängig als Bedingung und Wirkung einmütiger Arbeit und Denkungsart; daher durch Gleichheit und Aehnlichkeit des Berufes oder der Kunst am ehesten gegeben. Solches Band muss aber doch durch leichte und häufige Vereinigung geknüpft und erhalten werden, wie solche innerhalb einer Stadt am meisten Wahrscheinlichkeit hat; und die so durch Gemeingeist gestiftete, gefeierte Gottheit hat hier eine ganz unmittelbare Bedeutung für die Erhaltung desselben, da sie allein oder doch vorzugsweise ihm eine lebendige und bleibende Gestalt gibt. Solcher guter Geist haftet darum auch nicht an einer Stelle,  sondern wohnet im Gewissen seiner Verehrer und begleitet ihre Wanderung in fremde Lande."

Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, 1887

Portraitfoto Ferdinand Tönnies © gemeinfrei

Portraitfoto Ferdinand Tönnies © gemeinfrei

„So empfinden sich, gleich Kunst- und Standesgenossen, einander kennenden, auch die in Wahrheit Glaubensgenossen sind, überall als durch ein geistiges Band verbunden, und an einem gemeinsamen Werke arbeitend. Daher: wenn das städtische Zusammenwohnen auch unter dem Begriff der Nachbarschaft gefasst werden kann; wie auch das häusliche, sofern nicht-verwandte oder dienende Glieder daran Theil nehmen: so bildet hingegen die geistige Freundschaft eine Art von unsichtbarer Ortschaft, eine mystische Stadt und Versammlung, welche nur durch so etwas als eine künstlerische Intuition, durch einen  schöpferischen Willen lebendig ist.“

Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, 1887
Peter Kropotkin

Pjotr (Peter) Alexejewitsch Kropotkin gehört zu den einflussreichsten Theoretikern des kommunistischen Anarchismus. Sein Werk Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt wurde 1904 von Gustav Landauer ins Deutsche übertragen und erschien unter dem Titel Gegenseitige Hilfe in der Entwicklung.

Portraitfoto Peter Kropotkin © gemeinfrei

Portraitfoto Peter Kropotkin © gemeinfrei

„Der Trieb des Menschen zu gegenseitiger Hilfe hat einen so uralten Ursprung und ist so tief mit der ganzen vergangenen Entwicklung der Menschenrasse verbunden, daß er von dem Menschengeschlecht bis in unsere Zeit trotz allen Wechselfällen der Geschichte bewahrt worden ist.“

Peter Kropotkin, Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt, 1902
Gustav Landauer

Gustav Landauer wurde von Louise Dumont und Gustav Lindemann 1918 als Dramaturg und Redakteur ans Düsseldorfer Schauspielhaus berufen, dann aber zur Beteiligung an der Münchener Räterepublik freigestellt. Dort wurde er 1919 ermordet. Seine Schriften und sein politisches Handeln waren Vorbild nicht nur für die sich im Rheinland entwickelnden Gemeinschaftsprojekte.

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„Anarchie ist nur die negative Seite dessen, was positiv Sozialismus heißt. Die Anarchie ist der Ausdruck für die Befreiung des Menschen vom Staatsgötzen, vom Kirchengötzen, vom Kapitalgötzen; Sozialismus ist der Ausdruck für die wahre und echte Verbindung zwischen den Menschen, die echt ist, weil sie aus dem individuellen Geist erwächst, weil sie als das Gleiche und Eine im Geiste des einzelnen, als lebendige Idee blüht, weil sie zwischen den Menschen als freier Bund ersteht.“

Gustav Landauer, Individualismus, in: Der Sozialist, 1911

 

„Der Zusammenbruch ist da; Rettung kann nur der Sozialismus bringen, der nun wahrlich nicht als Blüte des Kapitalismus erwachsen ist, sondern als Erbe und verstoßener Sohn vor der Türe steht, hinter der der Leichnam des unnatürlichen Vaters verwest; der Sozialismus, der nicht in einem Höhepunkt des Nationalreichtums und üppiger Wirtschaft als Feiertagsgewand über den schönen Leib der Gesellschaft gezogen werden kann, sondern im Chaos fast aus dem Nichts geschaffen werden muß. In Verzweiflung habe ich zum Sozialismus aufgerufen; aus der Verzweiflung habe ich die große Hoffnung und freudige Entschlossenheit geschöpft; die Verzweiflung, die ich und meinesgleichen im voraus in der Seele trugen, ist nun als Zustand da; möge denen, die jetzt sofort ans Werk des Bauens müssen, Hoffnung, Lust zum Werk, Erkenntnis und ausdauernde Schaffenskraft nicht fehlen.“

Gustav Landauer, Aufruf zum Sozialismus. Vorwort zur zweiten Auflage, 1919

Cover Gustav Landauer, Aufruf zum Sozialismus, 1919 © gemeinfrei

Cover Gustav Landauer, Aufruf zum Sozialismus, 1919 © gemeinfrei

„Je fester ein Individuum auf sich selbst steht, je tiefer es sich in sich selbst zurückzieht, je mehr es sich von den Einwirkungen der Mitwelt absondert, um so mehr findet es sich als zusammenfallend mit der Welt der Vergangenheit, mit dem, was es von Hause aus ist. Was der Mensch von Hause aus ist, was sein Innigstes und Verborgenstes, sein unantastbarstes Eigentum ist, das ist die große Gemeinschaft der Lebendigen in ihm, ist sein Geblüt und seine Blutgemeinde. Blut ist dicker als Wasser; die Gemeinschaft, als die das Individuum sich findet, ist mächtiger und edler und urälter als die dünnen Einflüsse von Staat und Gesellschaft her. Unser Allerindividuellstes ist unser Allerallgemeinstes. Je tiefer ich in mich selbst heimkehre, um so mehr werde ich der Welt teilhaftig.“

Gustav Landauer, Durch Absonderung zur Gemeinschaft, 1900
Ludwig Rubiner

Ludwig Rubiner (1881–1920) war Schriftsteller, Kritiker des Expressionismus und Verfechter einer proletarischen Kultur (u. a. in Franz Pfempferts Zeitschrift Die Aktion). Sein Aufsatz Der Dichter greift in die Politik ein von 1912 läutete die politische Phase des Expressionismus ein.

 

„prolete rechts prolete links
rubiner in der Mitten“

Max Ernst, Lukrative Geschichtsschreibung, in: die schammade, 1920

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„hier, ihr proletarier, war einer der euren. einer, dem es nicht um befriedigung literarischen ehrgeizes ging, der nicht voll intellektuellen hochmuts zu euch sprach, sondern einer der sich demütigte vor euch, leidenden. […] sein werk ist aufschrei des leidenden, aufruf zur befreiung“


Franz Wilhelm Seiwert, im märz vor 10 jahren starb ludwig rubiner, in: in: a bis z, Heft 5, 1930
 

„Jedes Gedicht dieses Buches ist ein Bekenntnis seines Dichters zum Kampf gegen eine alte Welt, zum Marsch in das neue Menschenland der sozialen Revolution. […] Die Wahl der Gedichte folgte dieser Bedingung der künstlerisch ganz ausgedrückten, offenen, menschlichen Parteinahme; sie erfolgte nicht nach dem elenden Allerweltsstandpunkt des sogenannten ,rein künstlerischen' Wertes. Wir wissen, daß der ,rein künstlerische' Wert unrein und ein Unwert ist; denn die Künstlerästhetik ist ein Denksystem des Bürgers, das die Abkehr von jeder entschiedenen Richtung auf den Kampf für die Gemeinschaft rechtfertigen soll, und das dem als Künstler Auftretenden ermöglichen will, die persönliche Verantwortung gegenüber der Mitmenschheit abzulehnen. – Wir dagegen wissen und wollen, daß der Dichter menschlich für seine Worte verantwortlich ist, und daß er mit ihnen den ungesagten Willen der anderen ausspricht. – […] Mut und Verantwortung, Hingabe der eigenen Person für eine Menschheitsidee – diese vom anständigen Literaten soeben erst entdeckten Voraussetzungen zur ethischen Änderung der Welt – waren aber schon seit Generationen ganz selbstverständliche Bedingungen für das Proletariat: Es ist nichts anderes als das Fehlen der langjährigen menschlichen Schulung des Proletariers, das den Dichter der Revolution auch sachlich und erkenntnismäßig weit hinter das Proletariat zurückstellt. Er ist ein Neuling der Revolution. Er nimmt zunächst noch gar nicht an der wirklichen Gemeinschaftstat teil. Der aufrichtige Revolutionsdichter, den wir heute kennen, der nicht Schlagworte reimt, sondern durch dichterische Schöpfungen die Revolution geistig vorwärts zu treiben sucht, stammt fast nie aus dem Proletariat, sondern beinahe immer aus dem Kleinbürgertum. So war seine historische Aufgabe zuerst, sich selbst aus dem Kleinbürgertum zu befreien. Daher ist die seelisch wertvollere Revolutionsdichtung nicht sozialistisch, sondern vorläufig noch utopistisch. […] Es beschreibt nicht das Dasein, sondern ihm ist das revolutionäre Ziel selbst schon vollkommene Wirklichkeit. Wirklichkeit, die der Dichter mitten unter die Menschen stellt, und an der er also aus dem Geiste und dem Willen mit zu bilden hilft. So gering unter den Dichtern die Sachlichkeit des Gemeinschaftszieles auftritt – die Produktionsmittel der Erde in die Hände der Produzierenden! – so groß ist dagegen ihre Sachlichkeit auf allen geistigen, moralischen und Willenswegen der Revolution. Ihre Tat war: die Proklamation des seelischen Neubaus, die Proklamation der revolutionären Solidarität, der Gemeinschafts-Freiheit, der sozialen Gerechtigkeit. Die alte Welt ist nicht mehr zu retten. Jeder Vers dieses Buches wirft mehr von ihr auf den Trümmerhaufen ihres Verfalls, jeder Vers ist ein kleiner Hebeldruck an der Arbeit für das Gemeinschaftsziel. […] Und hier tritt der Dichter endlich an die Seite des Proletariers: Der Proletarier befreit die Welt von der wirtschaftlichen Vergangenheit des Kapitalismus; der Dichter befreit sie von der Gefühlsvergangenheit des Kapitalismus. Kameraden der Menschheit rufen zur Weltrevolution.“

Ludwig Rubiner, Nachwort, in: Kameraden der Menschheit. Dichtungen zur Weltrevolution. Eine Sammlung, hg. von Ludwig Rubiner, 1919
Martin Buber

Martin Buber (1878–1965) war ein jüdisch zionistischer Religionsphilosoph und 1908 zusammen mit Gustav Landauer, Erich Mühsam u. a. Mitbegründer des Sozialistischen Bundes, der sich an anarchistische Ideen unter anderem von Pierre-Joseph Proudhon, Kropotkin und Leo Tolstoi orientierte. Buber setzte sich in zahlreichen Schriften unter sozialpsychologischen Aspekten mit dem Begriff Gemeinschaft auseinander und begriff den Dialog als Grundprinzip der menschlichen Existenz.

Portraitfoto Martin Buber © gemeinfrei

Portraitfoto Martin Buber © gemeinfrei

„Eine große Begierde nach Gemeinschaft geht durch alle Seelen seelenhafter Menschen in diesem Lebensaugenblick der abendländischen Kultur. […] Es gilt die Befreiung des wirklichen Lebens zwischen Menschen und Menschen. Es gilt die Wiedergeburt der Gemeinde. […] Nicht in der Gesellschaft, nur in Kameradschaften kann neue Sitte wachsen, nicht in der Kirche, nur in Brüderschaften neuer Glaube gedeihen.“

Martin Buber, Gemeinschaft, in: Neue Erde, Heft 1, 1919
Carl Wilhelm Jatho

Weit über die Grenzen von Köln, wo Carl Wilhelm Jatho, Vater von Carl Oskar Jatho, ab 1891 Pfarrer war, wurde der sogenannte Fall Jatho bekannt: Ihm wurde vorgeworfen, er lehre Pantheismus, sodass 1911 die Amtsenthebung erfolgte. Danach betrieb er im Ruhestand seine Lehren weiter und hielt zahlreiche Vorträge, 1906 erstmals auch für die Arbeiterschaft.

Carl Wilhelm Jatho, der eine entkonfessionalisierte Kirche und die Besinnung auf urchristliche Werte wie brüderliche Gemeinschaft forderte, prägte auch das Gemeinschaftsverständnis der Kalltalgemeinschaft: Carl Oskar Jatho wählte bewusst den Begriff ,Orden‘ in seiner Schrift Von der Gesellschaft zu Gemeinschaft von 1920, um sein ideales Gemeinschaftsmodell zu beschreiben. 1913 erschienen mit Zur Freiheit seid Ihr berufen! und Die religiöse Kraft des Protestantismus gleich zwei Schriften im Verlag Eugen Diederichs in Jena. Diederichs, Mitbegründer der Werkbundes und einer der wichtigsten Verleger seiner Zeit, war ein wichtiger Förderer Jathos und verlegte auch Schriften der Kalltal-Presse.

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„Die Entwicklung drängt seit Jahrhunderten darauf hin, Brücken zu schlagen von Volk zu Volk, von Kirche zu Kirche, von Religion zu Religion. Wir prüfen den Wert und die Kraft dieser geschichtlich gewordenen Gemeinschaften und Organisationen an dem Maßstab der Menschlichkeit, der Menschenrechte und der Menschenpflichten.“

Carl Wilhelm Jatho, Predigt, 1910

 

„Ein Pfarrer, dem es gelingt, Sozialdemokraten und Freidenker, Monisten und ,Atheisten‘, fortgeschrittene Katholiken und Juden in die Kirche zu ziehen, der bei jeder Predigt ein volles, überfülltes Haus zu seinen Füße sieht, dessen unantastbare, lautere Persönlichkeit selbst seine Gegner mit Verehrung erfüllt, – unheimlich!“

Käthe Jatho-Zimmermann, Skizze des Falles Jatho, 1914

 

„Meine Studien beziehen sich gegenwärtig in erster Linie auf den Monismus, mit dem ich mich aus bestimmten Gründen etwas genauer bekannt machen muß. […] Ich wundere mich dabei aber oft, wie sehr die Grundgedanken der monistischen Weltanschauung schon seit vielen Jahren meine eigenen sind.“

Carl Wilhelm Jatho, Brief an Frau Rat, 1912

 

„Der Monismus mag immerhin eine Spezialität sein – er erscheint nur aber unentbehrlich als letztes Ziel alles Denkens, auch der religiösen Vernunft.“

Carl Wilhelm Jatho, Brief an Pastor Burggraf, 1906

Franz Wilhelm Seiwert, Christuskopf, 1916/17. Köln, Wallraf-Richartz-Museum © Rheinisches Bildarchiv Köln, Albers, Michael, 2012.03.05, rba_d031278

Franz Wilhelm Seiwert, Christuskopf, 1916/17. Köln, Wallraf-Richartz-Museum © Rheinisches Bildarchiv Köln, Albers, Michael, 2012.03.05, rba_d031278

„Die Gemeinschaften haben ihre Stärke in ihrer Absonderung. […] Wir Freigesinnten können mit jedem in Frieden leben, weil wir Religion als Herzenssache des Einzelnen auffassen. Wer aber an ein objektiv und allgemein gültiges Dogma glaubt, muß diejenigen für minderwertig halten, die seinen Glauben nicht teilen.“

Carl Wilhelm Jatho, Brief an Frau Rat M., 1912
Franz Wilhelm Seiwert

Nicht nur Philosopohen und Soziologen, sondern auch bildende Künstler und Architekten positionierten sich mit Texten in der Frage Gesellschaft-Gemeinschaft. Besonders stark war dies bei Seiwert der Fall: „Wenn es gelänge, den Zwiespalt zu überwinden, der in diesem alles und nichts liegt, wenn es Menschen geben wird, die das Männliche und das Weibliche in sich verwirklichen als entgegengesetzte Bezüglichkeit ihres Seins, ihrer Funktionalität in einem universalen Sinne, so wird es diese Pyramidenordnung nicht mehr geben […]. Es gibt einen Satz, von Marx, einen ganz einfachen Satz, der alles enthält, er lautet ‚Arbeit als Arbeit betrachtet, ergibt keinen Profit.‘ Der Profit ist DER Sinn der alten Weltordnung und der bürgerlichen Moral gewesen, er ist eine Gemeinheit […]. Hier gilt es unbestechlich und hart zu sein und zu bleiben in der Aufdeckung und Ablehnung dieser beinah übermenschlich grossen und umfassenden Verlogenheit. […] Wenn vor uns zehntausende Laotses, Buddhas, Mohameds, Legionen Christusse gelebt haben und wenn sie die tiefsten und wunderbarsten Gedanken, Wahrheiten gesprochen und vielleicht bewusst gelebt haben – Was geht das uns an? […] Uns kann nicht die wahrste Vergangenheit helfen, wir müssen durch unsere nie gewesene Gegenwart […]. […] Das oberste Gesetz der Lügenwissenschaft ist das von der Trägheit aller Erscheinungen: der Künstler, wie er heute ist, hat es zur Wirklichkeit, zu seiner Wirklichkeit erhoben. […] Sie aber hätten die tiefste Verpflichtung, den Weg aus der Lüge der Profitgesellschaft heraus zur Gemeinschaft der Menschen und der grossen Gesetze des Lebens zu suchen und zu finden.“

Franz Wilhelm Seiwert, Gemeinschaft und Gesellschaft [Manuskript], verm. nicht vor 1920

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„Ich war kein Freund des Krieges aus meinem streng orthodoxen Katholizismus. Aber die Unfähigkeit der ,una sancta catholica‘, den Massenmord der Menschen untereinander zu verhindern, machte mich zum Marxisten. Seit der Zeit stehe ich auf der Seite der Arbeiterrevolution, für die ich auch durch meine künstlerische Arbeit zu wirken hoffe.“  

Franz Wilhelm Seiwert, [o. T.], 1929

 

„Auch die heutigen revolutionären Kämpfer dürfen nicht andauernd über das ,Kapital‘ von Karl Marx stolpern und bei jedem Schritt, den sie tun möchten, zuerst in irgendeinem geschriebenen Werke nachschlagen, was wohl darüber gesagt sei. […] ich sage, daß die Revolution ihren Weg gehen wird, als wenn nie ein Karl Marx gelebt hätte.

[…]

Wenn die Welt und mit ihr die auf ihr lebenden Menschen in die Phase eingetreten sind, die gewaltige Isolierung zu zerstören, die zwischen Welt und Kosmos, zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mein und Dein, zwischen allen Dingen, die wir sehen, bestand, so ist dies ein Ereignis, das nicht nur den Menschen und sein Privatleben angeht, sondern es ist die Umgestaltung der gesamten optischen Materie. Das Problem des Kommunismus würde klein und egozentrisch bleiben, wenn es in seiner Triebkraft nicht als ein überweltliches Problem verstanden wird […].“

Otto Freundlich, Die schöpferische Macht im Kommunismus, 1921

Franz Wilhelm Seiwert, Euch ist der Tag. Aufruf an die revolutionäre Jugend, ca. 1930 © Rheinisches Bildarchiv Köln, rba_d045250

Franz Wilhelm Seiwert, Euch ist der Tag. Aufruf an die revolutionäre Jugend, ca. 1930 © Rheinisches Bildarchiv Köln, rba_d045250

„Der Mensch fängt an wo er Gemeinschaftswesen wird. Gemeinschaft ist nur möglich unter Freien. Keiner darf Beherrscher des andern sein. Gemeinschaft ist freies Unterordnen unter den reinsten. […] Durch die Revolution schreitet der Mensch zum Menschen, zur Gemeinschaft in der es keine Unterdrückten mehr geben wird.“

Franz Wilhelm Seiwert, Der Kreuzweg zum Menschen [Manuskript], 1919
Siedlung Freie Erde Düsseldorf

1921 besetzte eine Gruppe von Anarchisten ein Stück Land im Eller Forst in Düsseldorf und erklärte es zur Siedlung Freie Erde. Angeregt wurde man hierzu von den 12 Artikeln des Sozialistischen Bundes aus dem Jahre 1908, gegründet unter anderem von Gustav Landauer und Martin Buber. In der Siedlung Freie Erde wurde auch das Theaterstück im Freien des Malers Gert Wollheim aufgeführt. Erwin Quedenfeldt fotografierte die Siedlung und verkaufte die Fotografien zugunsten des Projektes. Beide waren Mitglied im Jungen Rheinland und im Aktivistenbund.

 

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„Also ich gebe jetzt ausdrücklich dem Wort ,ich' eine neue Bedeutung.

Ich soll heißen: Du da, andere Menschenform und Gedanke.

[...]

Also ich gebe jetzt ausdrücklich dem Wort ,ich' eine neue Bedeutung

Eine Bedeutung, die alle gemeinsamen also alle Geschöpfe mit mir tragen zugleich.

An euch aber ihr unfühlbaren unsichtbaren und unerkannten Wesen

Will ich meine Hymne richten.

Ihr sollt unserm Chor lauschen.

Damit ihr niedersteigen möget in unsern Kreis.

Weil ihr lüstern worden seid auf unsere große klingende Gemeinschaft.“


Gert Wollheim, [o.T.], in: Das Buch Eins des Aktivistenbundes, 1919

Franz Wilhelm Seiwert, Kopf neben roter Sonne, um 1920?. Privatsammlung © Rheinisches Bildarchiv Köln, um 1976/1978, rba_c000534

Franz Wilhelm Seiwert, Kopf neben roter Sonne, um 1920?. Privatsammlung © Rheinisches Bildarchiv Köln, um 1976/1978, rba_c000534

„Wir lieben den Wald, wir lieben die Flur, wir lieben die Erde, die Mutter Natur. Wir lieben die Menschen, vom Wahn befreit, der großmäuligen Phrasen Besessenheit. Wir lieben die Tat, die Arbeit, die Kraft, die aus dem Chaos ein Neuland schafft. Drum helft uns und schützt die erstehende Welt und schont uns den Wald, die Flur und das Feld.“

Schrifttafel Siedlung Freie Erde
„Entwurf einer Landschaft“

Rhein, Ruhr, Wupper: Die Flüsse im Rheinland werden zu Denkbildern –  „Pfaffengasse“, „Jordan“, „Ekstatischer Fluss“ –, eine Topografie zur Landschaft. Dies prägte auch die Entscheidung, sich in Simonskall niederzulassen: ein Ort der Stille und Konzentration und dennoch verbunden mit der kulturellen Vielfalt im Rheinland, das für die dort ansässige Avantgarde mehr als ein Kunst- und Kulturraum war: eine geistige Heimat.

„Der Rhein als Schicksal“

Der Rhein bleibt auch noch nach der Hochzeit der Rheinromantik wichtiges Symbol dieser Region: Der Journalist und Schriftsteller Alfons Paquet spricht in einem Vortrag für die Kölner Gesellschaft der Künste um den Verleger Karl Nierendorf von „Der Rhein als Schicksal“ und in der Zeitschrift Der Strom von der „Botschaft des Rheines“. Hierin drückt sich seine Vision von einer rheinischen Erneuerung Europas mit einem pazifistischen Deutschland als Mittler zwischen Ost und West aus.

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„Sie sind Bauern, wir sind Städter, sie sind von der Donau, wir vom Rhein; aber die Familienähnlichkeit der Herzen – wo nähme denn sie überhaupt ein Ende?“

Carl Oskar Jatho, Stromeinsamkeit und Menschenherz. Ein Donaubuch, 1939

Franz Wilhelm Seiwert, Kölner Stadtansichten, 1929. Kölnisches Museum © Rheinisches Bildarchiv Köln, rba_mf213142

Franz Wilhelm Seiwert, Kölner Stadtansichten, 1929. Kölnisches Museum © Rheinisches Bildarchiv Köln, rba_mf213142

Franz Wilhelm Seiwert wandte sich trotz der Besatzung des Rheinlandes gegen den Nationalismus: „Das Ideal des deutschen Nationalstaates ist ein Schwindel, auf den nur die ganz Dummen, nämlich die Sozialdemokraten hereinfallen, die ein Vaterland zu verteidigen haben, in dem ihre Bonzen einen Posten haben. […] Alles in allem, vom Standpunkt einer wahrhaften Internationalität, des Klassenkampfes und der Weltrevolution haben wir keinen Grund, gegen den Versailler Frieden und die hieraus entspringenden ,unabhängigen Rheinlande' zu protestieren, oder irgendetwas dagegen zu tun!“

Franz Wilhelm Seiwert, Die Rheinlandfrage und die „Vergewaltigungspolitik der Franzosen“, in: Die Aktion, Jg. 13, Heft 1, 1923
Rheingruppe

„wir nennen uns die rheingruppe, damit kommt zum ausdruck, daß wir mit dem rhein als landschaft etwas zu tun haben, daß wir nicht aus zufall hier sitzen oder sitzen geblieben sind […] daß zum anderen wir glauben, daß der geist dieser landschaft sich in unserer arbeit einen ausdruck sucht, und daß unsere arbeit für den geist der landschaft zeugnis ablegt.“

Franz Wilhelm Seiwert, rede, gehalten bei der eröffnung der ausstellung der rheingruppe in düsseldorf, am 30. august 1930, in: a bis z, Nr. 11, 1930

Franz Wilhelm Seiwert, Postkarte aus Simonskall, 1919 © gemeinfrei

Franz Wilhelm Seiwert, Postkarte aus Simonskall, 1919 © gemeinfrei

„Expressionismus? Warum freßt ihr Briketts? Werfels Dienstmädchen singt aus dem Lichtschacht: Es lächelt DER STROM Er ladet zum Bade Der Knabe schlief ein Am grünen gestade Symphonische Beeren schimmern vom RHEIN ( DADA) Schein – dada Mariengarn heckelt die Welträtsel ein (dada)“ Heinrich Hoerle, in: Bulletin D, 1919

„Zum Rheinländertum bekannten wir uns ausdrücklich. Seiwert faßte das auch politisch und fand die Formel ,Vom Regionalismus zum Internationalismus' […]."

Hans Schmitt-Rost, Die Progressiven und ihre Freunde, 1975
„Stromeinsamkeit und Menschenherz"

„Ist erst wieder die wahre Gemeinschaft aller Menschen da, erkennt erst wieder jeder sich im Gesichte des Mitmenschen, fühlen erst wieder alle den Strom, der durch Ich und Du zum Wir fließt, öffnen wir weit unsere Seelen dem großen Kommenden, werfen wir uns an, in den kommenden [...] Geist, so wird an diesem Geiste uns herrlich [...] die neue Kunst erblühen.“

Franz Wilhelm Seiwert, Über Architektur, in: Die Rheinlande, Jg. 29, 1919

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„Kindheit am Rhein – ein gleichgewogener Klang
Von Haus und Garten zwischen Strom und Hang.
Die Jahre kamen an, kristallen weiß,
Und Wochen später blühte das erste Reis.“

Carl Oskar Jatho, Das Gartengespräch. Ein rheinischer Zyklus, 1946

Franz Wilhelm Seiwert, Landschaft, verm. vor 1920 © Rheinisches Bildarchiv Köln, rba_mf160454

Franz Wilhelm Seiwert, Landschaft, verm. vor 1920 © Rheinisches Bildarchiv Köln, rba_mf160454

„Flüsse sind Götter. Wir erfuhren es plötzlich wieder. Und heilig sei ihr Wandel auf Erden den Menschen.“

Carl Oskar Jatho, Stromeinsamkeit und Menschenherz. Ein Donaubuch, 1939

„Die Gemeinschaft der Einsamen“ – Das Epochenjahr 1919

Entdecken Sie im ersten Ausstellungsraum, welche Ereignisse die junge Weimarer Republik geprägt haben und wie sich die rheinische Kunstszene um 1919 darstellte.

„Welt zum Staunen“ – Das künstlerische Schaffen der Kalltalgemeinschaft

Entdecken Sie im dritten Ausstellungsraum, welche künstlerischen Arbeiten die Kalltalgemeinschaft schuf und durch welchen Kunstbegriff diese geprägt waren.

„Zwischen Morgen und Abermorgen“ – Die Kalltalgemeinschaft nach der Kalltalgemeinschaft

Entdecken Sie im vierten Ausstellungsraum, wie es für die Protagonisten der Kalltalgemeinschaft nach ihrer Zeit in Simonskall weiterging.

Meine Sammlung

Entdecken Sie, mit welchen Exponaten Sie Ihr virtuelles Museum bestückt haben.